Aktuelles: Gemeinde Altlußheim

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Volkstrauertag

Artikel vom 15.11.2022

Ansprache von Bürgermeister Uwe Grempels zum Volkstrauertag 2022

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

zum heutigen Volkstrauertag darf ich Sie hier auf dem Friedhof in Altlußheim willkommen heißen und mich für Ihre Teilnahme recht herzlich bedanken.

Grundsätzlich gedenken wir am Volkstrauertag immer aller Toten von Krieg und Gewaltherrschaft in Deutschland und weltweit. In diesem Jahr steht der Volkstrauertag allerdings sehr stark im Zeichen des Ukrainekrieges.

Nachdem die Veranstaltung im letzten Jahr in Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche durchgeführt wurde, begrüße ich heute den Diakon der evangelischen Kirche, Herrn Jascha Richter. Er wird die heutige Ansprache halten und nach der Kranzniederlegung ein Gebet sprechen.

Musikalisch umrahmt wird der Volkstrauertag vom Spielmannszug der Freiwilligen Feuerwehr unter der Leitung von Herrn Werner Wittke.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, meine Damen und Herren,

für viele Menschen war es kaum vorstellbar, dass Russland tatsächlich die Ukraine angreifen könnte.

Seit Februar diesen Jahres, wenn wir allerdings genau hinschauen, eigentlich bereits seit der Annexion der Krim im Jahre 2014, herrscht wieder Krieg in Europa. Russland hat einmal mehr mit dem Angriff auf die Ukraine das Völkerrecht und alle Regeln der Nachkriegsordnung in Europa gebrochen.

Im Jahr 2022 müssen wir Bilder aus der Ukraine sehen, von denen wir gehofft hatten, dass sie sich gerade auf unserem Kontinent niemals wiederholen:

Menschen, die vor Bomben in U-Bahnschächte fliehen, die sich an der Grenze von ihren Familien trennen oder gar für immer Abschied nehmen müssen an langen, frisch ausgehobenen Grabreihen.

Wir sehen und hören, was die Menschen erleiden müssen nach dem skrupellosen Überfall Russlands auf die Ukraine. Wir sehen, wozu Menschen in diesem Ausnahmezustand fähig sind – im Guten wie im Schlechten:

Flüchtlingskonvois unter gezieltem Beschuss, geplünderte und zerstörte Städte und grausame Massaker an Zivilisten, aber auch erbitterter Widerstand von ukrainischen Soldaten, mutiger Protest von Zivilisten gegen Panzer und eine immense internationale Hilfsbereitschaft. All diese Schrecken des Krieges finden im Herzen Europas statt.

Auch in Altlußheim sind Menschen aus der Ukraine angekommen – Großmütter, Mütter mit ihren Kindern.

Fast 50 Personen haben mittlerweile in unserem Ort eine neue Bleibe gefunden. Sie sind zum Teil unter Raketenbeschuss geflohen und konnten kaum etwas mitnehmen. Jede Person bringt ihre eigene Leidensgeschichte mit.

Beeindruckt und berührt hat mich die Geschichte einer Frau, die neben ein paar Kleidungsstücken noch ihre Katze auf die beschwerliche Flucht mitgenommen hat. Ein Umstand, der für mich zuerst unerklärlich war. Sie gehörte zu den ersten Geflohenen, die nach Altlußheim kamen und wir trafen uns zu einem Gespräch im Rathaus. Die Frau berichtete unter Tränen von ihrem zerbombten Wohnblock und der mehrtägigen, lebensgefährlichen Flucht.

Die Stimmung war sehr bedrückt und von längeren Pausen geprägt. Ihren Schmerz und ihr Leid fasste sie allerdings in einem Satz, der im Zusammenhang mit ihrer Katze stand, zusammen. Sie sagte: „Ich konnte meinen Mann und meinen Sohn nicht mitnehmen, also habe ich die Katze mitgenommen.“ Ich war sprachlos und auch zutiefst beschämt über mein anfängliches Unverständnis im Hinblick auf das Handeln dieser Frau.

Und ja, ich haderte noch ziemlich lang mit mir, bis ich ein Gedicht von Janina Bodi in der Broschüre zum heutigen Volkstrauertag fand. Darin befasst sie sich mit folgender Frage: Wie über Krieg schreiben, wenn man nur den Frieden kennt?

Im Hinblick auf meine Erfahrung müsste die Frage lauten: Wie über Krieg sprechen, wenn man nur den Frieden kennt?

Doch hören Sie selbst das Gedicht von Janina Bodi:

"ich kenne keinen Krieg

ich kenne nur

geschichtsbuchkapitel

mit schaubildern und einem spannenden titel,

mit fakten und daten und zahlen und quoten:

Erster Weltkrieg, 1914-18, mit 17 Millionen und

Zweiter Weltkrieg, 1939-45, mit 80 Millionen

Toten.

ich kenne keinen Krieg

ich kenne nur

literaturmeisterwerke

wohlklingende Worte von schönheit und stärke

von brecht und remarque, die sie uns hinterließen:

Wir waren 18 Jahre und begannen

die Welt und das Dasein zu lieben;

wir mußten darauf schießen.

ich kenne keinen Krieg

ich kenne nur

abendessenanekdoten

am tisch ist schwerwiegendes schweigen geboten

wenn opa uns wieder von damals erzählt:

Wir hatten Hunger und hatten kein Geld.

Wir stahlen gefrorene Kartoffeln vom Feld.

ich kenne keinen Krieg

ich kenne nur

nachrichtenbilder

explosionen in städten und weinende kinder,

daneben der sprecher, der sachlich erklärt:

Am 6. Tag der Invasion in der Ukraine haben

die russischen Truppen ihre Angriffe verstärkt.

ich kenne keinen Krieg

ich kenne nur

frieden

ich musste nie fliehen, bin immer geblieben.

ich hatte nie hunger, bin immer schon satt.

ich musste nie schießen, weil man‘s mir befohlen hat.

ich kann seine schrecken nur benennen,

doch andere müssen den krieg durchleben.

ich wünschte, ich wär‘ nicht so machtlos dagegen.

ich wünschte, ein jeder würd‘ ihn wie ich

nur noch vom

hörensagen

kennen."

Dieses Gedicht führt uns deutlich vor Augen, wie glücklich wir uns schätzen dürfen, dass wir seit mehr als 75 Jahren ein Leben in Frieden und Freiheit leben.

Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, spüren wir in diesen Tagen mehr denn je. Daraus ergibt sich für uns auch die Verpflichtung jederzeit für Frieden, Freiheit und Demokratie einzustehen. Ein jeder von uns, an dem Platz, an dem es möglich ist.

Am Volkstrauertag gedenken wir aller Toten von Krieg und Gewaltherrschaft in Deutschland und weltweit.

Insbesondere denken wir heute an die Kriegsopfer in der Ukraine: der vielen in den vergangenen Monaten gefallenen Soldaten und getöteten Männer, Frauen und Kinder.

Wir wollen nun der (dieser) (unseren) Toten gedenken:

Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker. 

Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.

Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.

Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.

Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die  Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräften, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.

Wir gedenken heute auch derer, die bei uns durch Hass und Gewalt Opfer geworden sind.

Wir gedenken der Opfer von Terrorismus und Extremismus, Antisemitismus und Rassismus in unserem Land.

Wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten und teilen ihren Schmerz.

Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt.